Uie-Liang Liou lebt seit rund 25 Jahren in Deutschland. In dieser Zeit war und ist sie im Alltag immer wieder mit rassistischen Bemerkungen konfrontiert. In einer von youngcaritas Unterfranken und Würzburg organisierten Online-Gesprächsrunde am 5. August 2020 sprach sie von diesen Erfahrungen.
Als Einstieg stellte sie einen Text vor, in dem sie von ihren Erlebnissen als Schulbegleitung berichtet: „Ich arbeite als Schulbegleitung in der Grundschule für Kinder in der ersten Klasse. Im Moment lernen die Kinder ein Lied. Das Lied kennt jeder. Aber ich fühle mich gar nicht wohl und leide darunter. Der Liedtext lautet: ‚Alle Kinder lernen Lesen, Indianer und Chinesen.‘ Bei dem Wort ‚Chinesen‘ wurde den Kindern beigebracht, dass die Augen mit beiden Händen zur Seite gezogen werden, um die Augen schmal zu machen. Das finde ich sehr fies und sehr unangenehm.“ Uie-Liang Liou kritisiert daran, dass den Kindern damit gleich zu Beginn ihrer Schulzeit beigebracht wird, wie sie die als asiatisch gelesenen Kinder ausgrenzen können. Auch ihr in Deutschland geborener Sohn litt in seiner Schulzeit unter rassistischen Sprüchen und Gesten seiner Mitschüler*innen. Er zog sich daraufhin zurück. Heute meint er, dass er zwar damit umgehen könne, es für ihn aber zum Alltag in Deutschland dazugehöre.
Oft sei es schwierig sich gegen subtilen Alltagsrassismus zu wehren, bemerkte eine Diskussionsteilnehmerin. Man müsse viel Mut aufbringen, um solche Sachen anzusprechen. Uie-Liang Liou ergänzte, dass sie der Lehrerin eine E-Mail bezüglich des Kinderlieds geschrieben hat. Die Lehrerin habe der Vorwurf sehr beschäftigt und sie habe den Kindern seither nicht mehr diese Geste beigebracht; offensichtlich war sie sich der Auswirkungen ihres Lehrinhalts nicht bewusst. Ein positives Beispiel dafür, dass es helfen kann, rassistisches Verhalten anzusprechen. Allerdings kennt Uie-Liang Liou auch andere Situationen, in denen ihre Einwände rigoros abgelehnt wurden und sie als „zu empfindlich“ abgestempelt wurde. Dabei sei es gerade die Summe der Mikroaggressionen, die das Leben erschweren: „Es ist jeden Tag ein Kampf!“
Ein weiterer Diskussionsteilnehmer erzählte davon, dass er sich selbst oft mit einem deutschen Pseudonym vorstellt und seinen Kindern bewusst deutsche Namen gegeben hat, um sich selbst und seine Kinder vor rassistischen Anfeindungen zu schützen. In den letzten Monaten hat sich die Situation für als asiatisch gelesene Menschen noch verschärft. Uie-Liang Liou berichtete von Kindern, die ihr „Corona! Corona!“ hinterherrufen und davon, dass sie sich nicht traute eine Maske aufzuziehen, als es noch keine Maskenpflicht gab. Sie wollte einfach nicht noch mehr auffallen, obwohl sie als Krankenschwester aus Taiwan schon sehr früh wusste, dass die Masken die Ansteckungsgefahr senken können.
Die Online-Gesprächsrunde lebte von den persönlichen Geschichten der Teilnehmer*innen und eröffnete neue Perspektiven auf unseren alltäglichen Umgang miteinander. Uie-Liang Liou bekräftigte in ihren abschließenden Worten: „Der Austausch auf Augenhöhe ist sehr wichtig!“
Die Online-Gesprächsrunde fand im Format der „Living Library“ oder „Lebende Bibliothek“ statt: Dabei geben Menschen einen Einblick in ihr Leben. Es geht darum, über den eigenen Tellerrand zu schauen und für andere Lebenswirklichkeiten sensibilisiert zu werden. Denn Alltagsrassismus geschieht oft nebenbei und nicht bewusst. Umso wichtiger ist es daher, sich gegenseitig zuzuhören, eigene Verhaltensweisen zu hinterfragen und achtsam miteinander umzugehen.
Die Veranstaltung war Teil des EU-Projektes MIND, welches die finanzielle Unterstützung der Europäischen Union im Rahmen des DEAR-Programmes (Development Education and Awareness Raising) erhalten hat.
Uie-Liang Liou ist Krankenschwester, Schulbegleitung und Autorin. Seit mehreren Jahren ist sie in der Schreibwerkstatt von In Via Konfiza, Landesstelle Bayern aktiv. Die Schreibwerkstatt gibt Migrantinnen die Möglichkeit, die eigene Migrationsgeschichte im Schreiben zu reflektieren. Uie-Liang Liou war 2012 bis 2016 Vorsitzende des Taiwan Vereins in Deutschland e.V. Weitere Infos: https://www.invia-bayern.de/migration/angebote/schreibwerkstatt.html; https://www.facebook.com/Schreibwerkstatt-Liou-Uie-Liang-von-Taiwan-391152604860029/;
youngcaritas ist der Jugendbereich des Caritasverbandes und ermutigt junge Menschen, sich sozial zu engagieren und sich für eine solidarische Gesellschaft einzusetzen. Die Veranstaltung wurde gemeinsam von youngcaritas Unterfranken (Caritasverband für die Diözese Würzburg e.V.) und youngcaritas Würzburg (Caritasverband für die Stadt und den Landkreis Würzburg e.V.) organisiert.
Esther Schießer